Ein wörtliches Zitat ist direkt und unverfälscht und damit gegenüber einem sinngemäßen Zitat zu bevorzugen – das scheint eine weit verbreitete Ansicht zu sein. Das Gegenteil ist jedoch meist der Fall. Dieser Beitrag beschäftigt sich damit, wann Sie wörtlich zitieren sollten – und warum sinngemäße Zitate meist zu bevorzugen sind.
Die eigene Umformulierung eines Textes reicht in Präzision und Klarheit niemals an das Original heran; daher ist ein direktes, also wörtliches Zitat immer besser als ein indirektes, sinngemäßes Zitat – so die verbreitete Ansicht. Dabei ist meist das Gegenteil der Fall: So sollte ein indirektes Zitat der Normalfall sein – und nur unter bestimmten Voraussetzungen ein wörtliches Zitat verwendet werden.
Ein konkretes Beispiel: In Ihrer Arbeit zum Thema tiergestützte Pädagogik untersuchen Sie die Eignung von Pudeln für den Einsatz in Kindertagesstätten (dieses Beispiel habe ich hier eingeführt). Nun möchten Sie darlegen, inwiefern die Fellbeschaffenheit ein Kriterium für die Eignung einer bestimmten Hunderasse in einem Kindergarten sein kann. Hierzu finden Sie eine Textstelle in dem Buch von Marlies Müller: Demnach sind Pudel bei Kindern deshalb so beliebt, weil ihr Fell so „weich wie Watte und so wuschelig wie Wolle“ ist. Viele Kinder möchten deshalb einen Pudel spontan streicheln, was im Rahmen der tiergestützten Pädagogik als Vorteil eines Pudels gegenüber einem Kurzhaarhund genutzt werden könnte. Diese Textstelle bietet sich in besonderer Weise als wörtliches Zitat an: Nach Marlies Müller ist das Fell von Pudeln so „weich wie Watte und so wuschelig wie Wolle“ (Müller 1950: 40).
Warum bietet sich hier ein wörtliches Zitat an? Weil nicht nur der inhaltliche Aspekt bedeutsam ist, sondern gerade Wortwahl und Formulierung: Es wurde eine rhetorische Figur eingesetzt, die in wissenschaftlichen Texten eher unüblich ist. Die Alliteration, also die Verwendung des gleichen Anfangsbuchstabens bei mehreren Wörtern eines Satzes, gibt das Wohlgefühl beim Streicheln eines Pudels wunderbar wieder. Daher ist in diesem Fall das wörtliche Zitat zu bevorzugen.
Zum Vergleich: Ein sinngemäßes Zitat könnte lauten: Nach Marlies Müller weist das Fell von Pudeln eine watte- bzw. wollähnliche Struktur auf (vgl. Müller 1950: 40). Hier fehlt nicht nur der Aspekt des Weichen und Wuscheligen, sondern auch die Verbindung zwischen der Fellbeschaffenheit und der spontanen Zuneigung, die Kinder laut Müller oft für Pudel empfinden. Ein sinngemäßes Zitat ist in diesem Fall nicht zu empfehlen, denn hier kommt es wirklich auf den Wortlaut des Originals und den dort vorhandenen konnotativen Mehrwert an. Je pointierter also eine Formulierung ist, desto eher bietet es sich an, sie wörtlich zu zitieren.
Meist kommt es aber auf den Inhalt an, nicht auf den Wortlaut. In solchen Fällen ist ein indirektes Zitat besser. Denn mit einer eigenen Formulierung können (oder müssen) Sie zugleich das indirekte Zitat in den Kontext Ihrer Arbeit einbetten, es gewichten, abwägen und dazu Stellung nehmen – und darauf kommt es in einer wissenschaftlichen Arbeit ja an. Wörtliche Zitate hingegen sollten sparsam verwendet werden. So beschreiben es auch die meisten Zitierrichtlinien deutscher Hochschulen (vgl. zum Beispiel einzelne Richtlinien der Freien Universität Berlin, der Goethe-Universität Frankfurt am Main oder der Universität Kassel).
Also: Wägen Sie ab, wann ein wörtliches Zitat überhaupt angebracht ist. Bei der Darstellung allgemeiner Sachverhalte ist in der Regel ein sinngemäßes Zitat besser. Wenn es aber gerade auf die Wortwahl des Originals ankommt und es um einen sehr spezifischen Sachverhalt geht, empfiehlt sich ein wörtliches Zitat.
© Dr. Anette Nagel. Artikel erschienen im November 2016, zuletzt bearbeitet im Juni 2024.